Magdeburg. Die Fallzahlen häuslicher Gewalt steigen seit Jahren an. Auch digital wachsen die Optionen, um Gewalt und Kontrolle im sozialen Nahfeld auszuüben. Der Fachtag, als Kooperation des Landesfrauenrates mit der Landeskoordinierungsstelle zivilgesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure zur Umsetzung der Istanbul-Konvention (LIKO) und dem Volksbad Buckau c/o Frauenzentrum Courage, widemte sich gezielt einem Thema, das bisher noch viel zu oft unter dem Radar läuft: Digitale Gewalt im sozialen Nahfeld.

Zum Fachtag "Digitale Gewalt erkennen - handeln - stoppen" kamen am 05. Juni 2024 viele interessierte Fachkräfte, die sich sich in ihrer Arbeit der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen* und Mädchen* widmen. Neben Beraterinnen aus dem Frauenschutz und aus Beratungsstellen gegen sexualisierte Gewalt waren Fachkräfte aus der Gleichstellungsarbeit, der Kinder- und Jugendhilfe, der Polizei, der Justiz, der Antidiskriminierungsarbeit aber auch aus der Demokratieförderung, Medienbildung und weiterer Arbeitsfelder vertreten. Etwa 70 Teilnehmende hatten sich zum Fachtag im Volksbad Buckau angemeldet, das damit vollständig ausgebucht war.

Impressionen Fachtag Foto Collage 01Impressionen aus dem Fachtag. Fotos: Jesko Döring und Landesfrauenrat.

In ihrer Eröffnung ordneten Michelle Angeli (Vositzende Vorstand LFR) und Antje Ludwig (Geschäftsführung PARITÄTISCHER Sachsen-Anhalt) die Thematik Digitale Gewalt mit ihrer geschlechtsspezifischen Dimension und ihren vielfältigen Ausprägungen als inzwischen gängige Form der Gewaltausübung an Frauen* und Mädchen* ein. Die Istanbul-Konvention sieht den Schutz von Frauen und Mädchen vor jeglicher Form von Gewalt vor. So auch vor den digitalisierten Formen der Gewaltausübung. Hier bestehen jedoch erhebliche Wissenslücken bei im Gewaltschutz tätigen Fachkräften und den angrenzenden Professionen.

Die Landesbeauftragte für Frauen- und Gleichstellungspolitik, Sarah Schulze, zog die Zahlen der aktuellen polizeilichen Kriminalstatistik heran, die erneut bundesweit und auch in Sachsen-Anhalt deutliche Anstiege im Bereich der Gewalt gegen Frauen verzeichnen. Mit nahezu 8000 Fällen häuslicher Gewalt liegt Sachsen-Anhalt im Bundesdurchschnitt mit einenm neuen Höchststand auf einem traurigen Platz zwei, wie das gerade veröffentlichte Lagebild Häusliche Gewalt 2023 des BKA aufzeigt. Die statistische Herausforderung der Erfassung und des Monitorings der Digitalisierung dieser geschlechtsspezifischen Gewalt machte Sarah Schulze zudem deutlich. Das "Tatmittel Internet" der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst längst nicht alle Formen der digitalen Gewaltausübung. Und so ist auch hier - wie bei allen Formen von Gewalt gegen Frauen* - das Dunkelfeld um ein Vielfaches größer als das Hellfeld.

Dass Digitale Gewalt auch zur Herausforderung für die Beraterinnen im Hilfesystem wird, stellte Nicole Franke in ihrem Überblick über die Ausprägungsformen und Wege Digitaler Gewalt im sozialen Nahfeld klar. Die große Bandbreite an Erscheinungsformen, das non-stop und ortsunabhängige Ausüben der Gewalt und die Aufspürbakkeit von Schutzräumen durch die Standortermittlung betroffener Frauen* durch Täter, sind Herausforderungen mit denen das Hilfesystem heute zu kämpfen hat. Beraterinnen berichten hierzu, dass inzwischen nahezu jeder Beratungsfall von häuslicher Gewalt auch digitale Anteile hat und dass digitale Formen die Ausübung und Fortsetzung anolger Gewalt ergänzen und erweitern. Nicole Franke ermutigte die anwesenden Professionen durch Vernetzung, Austausch und das gegenseitige Erweitern der eigenen, spezifischen Perspektive einen multiprofessionellen Ansatz zur Bekämpfung von Digitaler Gewalt zu entwickeln. Die neue Stelle im Landesfrauenrat gegen Hasskriminalität und Digitale Gewalt kann dafür die Schnittstelle sein.

Fachkräfte im Gewaltschutzsystem erfuhren von Inga Pöting, Leiterin des Projekts "Ein Team gegen digitale Gewalt" aus Berlin, welche Schritte und technischen Absicherungsmöglichkeiten es bei Digitaler Gewalt im sozialen Nahfeld gibt. Noch bis Ende 2024 vermittelt "Ein Team gegen digitale Gewalt" im Rahmen des derzeit laufenden Modellprojekts in Schulungen und Trainings Fachwissen zu Ortung, Überwachung, Tracking und weiteren technischen Gewaltaspekten an Fachkräfte aus der Beratung und aus Schutzeinrichtungen in Sachsen-Anhalt. Darüber hinaus werden vier Multiplikator*innen qualifiziert, diese Technik-Expertise auch zukünftig im Land vorzuhalten und weiter zu verbreiten.

Elizabeth Ávila González, Juristin und Expertin bei digitalisierter geschlechtsspezifischer Gewalt beim bff, ließ in ihrem Vortrag keinen Zweifel daran, dass wir zur juristischen Bekämpfung von Digitaler Gewalt im sozialen Nahfeld mehr brauchen als ein verschärftes Strafrecht. Anhand von Fallbeispielen, wie sie das Hilfesystem nur zu gut kennt, machte sie deutlich, wo das prädigitale Straftrecht seine Lücken hat und wo Betroffene auch zivilrechtlich an Grenzen stoßen. In ihrer beruflichen Praxis setzt sich Elizabeth Ávila González im Rahmen des Projekts "Aktiv gegen digitale Gewalt" für eine intersektionale Perspektive bei Digitaler Gewalt an Frauen* und Mädchen* ein und kämpft für eine Weiterentwicklung der Rechtslage im Sinne der Betroffenen. Die bisher bestehende Mosaiklandschaft aus diversen Rechtsgebieten, die man heranziehen kann und muss, um offensichtliche Gewalt juristisch zu verfolgen, die mit Hilfe digitaler Mittel, technischer Geräte und auf sozialen Medien ausgeübt wird, ist für Betroffene und Beratungsstellen keine zielführende und zufriedenstellende Option. Ein bißchen Hoffnung, gibt die neue EU-Richtlinie gegen Gewalt an Frauen, die auch Cybergewalt direkt aufgreift und den EU-Mitgliedsstaaten Mindeststandards vorgibt. Bis zur Anwendbarkeit in Deutschalnd braucht es aber noch etwa 2 Jahre und die Effekte bleiben abzuwarten.

Am Nachmittag konnten sich die Anwesenden in mehreren Workshops in Themenbereiche vertiefen. Digitale Trennung etwa ist ein Thema, das bei einer Trennung aus gewaltvollen Beziehungen für alle Betroffenen ein wichtiger und nicht zu unterschätzender Aspekt ist. Welche Konten, Accounts und vielleicht auch Passwörter Menschen freiwillig oder auch unfreiwillig geteilt haben und welche Absicherungsschritte im Falle eines Fortsetzens der Gewalt mittels digitaler Hilfen nötig ist, wurde in einem Workshop an einem Fallbeispiel nachvollzogen. Ein weiterer Workshop widmete sich dem leider immer größer werdenden Phänomen der Bluetooth-Tracker und diskutierte mit den Teilnehmenden, welche Schritte Schutzeinrichtungen bei vermutetem Tracking vor und während einer Aufnahme berücksichtigen können.
Im Workshop von Cordelia Moore wurde die digitale, sexualisierte Gewalt zum Thema. Bilder oder Videos, die teils gefälscht, teils echt aber ohne Einwilligung veröffentlicht im Netz kursieren, um Frauen zu diffamieren, zu verängstigen und zu erpressen, ist eine Form von sexueller Gewalt. Diese Form erleben fast ausschließlich Frauen und Queers. Tendenz steigend - nicht zuletzt durch neue Möglichkeiten durch Künstliche Intelligenz. Cordelia Moore vermittelte ein Bild über die Lage anhand von Daten aus unterschiedlichen Ländern und diskutierte mögliche Handlungsoptionen, die leider weit hinter den Notwendigkeiten zurückbleiben.

Impressionen Fachtag Collage 02Impressionen aus dem Fachtag. Fotos: Landesfrauenrat.In der abschließenden Podiumsdiskussion diskutierten die eingaldenen Expert*innen, welche Entwicklungen bereits positiv zu bewerten sind und welche noch dringlich angegangen werden müssen. Eindrücklich berichtete die Mitarbeiterin der Interventionsstelle in Magdeburg und Umland, Lissy Herrmann, von den Herausforderungen bei Cyberstalking. Ihre Forderungen nach Sensibilisierung, Wissensaufbau und konsequenter Verfolgung bei Polizei, Justiz und Strafverfolgung konnten alle Anwesenden teilen. Christiane Bergmann  (Ministerium für Inneres und Sport) beschrieb, wie durch Schulungen die Polizei qualifiziert wird und sich auf die bestehenden Herausforderungen einzustellen versucht. Die neuen Opferschutzbeauftragten sind hier eine wichtige Schnittstelle, die alle Teilnehmenden auch als deutliche Verbesserung in der polizeilichen Betreuung und Unterstützung von gewaltbetroffenen Frauen* erleben. Personelle Aufstockung wünscht sich die Polizei an dieser Stelle, da das Fallaufkommen und die personelle Ausstattung mancherorts noch auseinanderklaffen.
Inga Pöting berichtete, wie empowernd es für Hilfseinrichtungen ist, wenn sie durch Schulungen und in Übungen erfahren, dass Technik kein Höllenwerk, sondern eine handhabbare Welt ist. Sie betonte jedoch eindringlich, dass auch geschulte Einrichtungen nicht mit dem Thema allein gelassen werden dürfen, da das Wissen zwar beim Erkennen der Handlungsnotwendigkeiten hilft, jedoch Zeit, Geld und Personal als grundlegende und sichere Ausstattungsfaktoren der Schlüssel für erfolgreiches Handeln sind. Deshalb wird "Ein Team gegen digitale Gewalt" auch in weiteren Modellprojekten deutschlandweit unterschiedliche Support-Optionen austesten und die Erfahrungswerte an die Politik zurückgeben. Auch Cordelia Moore und Elizabeth Ávila González konnten diese Forderungen teilen und ergänzen. Sowohl der gesellschaftliche Anteil an der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt war Thema ihrer Beiträge als auch der notwendige politische Handlungswille, statt Opfer durch lückenhafte Unterstüztzungsoptionen zu beschämen, die Täter und die Straftat in den Blick zu nehmen. Gewalt gegen Frauen* und Mädchen* läßt sich nicht nur und vor allem nicht erst bekämpfen, wenn sie bereits ausgeübt wird. Sie muss stattdessen ein No-Go in unserer Gesellschaft sein. Hier muss durch grundlegende Bildung, Wertearbeit und Prävention der Grundstein dafür gelegt werden, dass es Tätern schwer bis unmöglich gemacht wird, Gewalt überhaupt auszuüben.

Der Fachtag bot den Teilnehmenden die Möglichkeit, sowohl ihr Wissen und ihre Handlungsmöglichkeiten zum Thema auszubauen als auch durch Austausch und Vernetzung die Bekämpfung von digitalisierter geschlechtsspezifischer Gewalt auf breitere Beine zu stellen.

Wir danken allen Gästen, Beitragenden und den Organisator*innen für diesen gelungenen Tag. Wir sehen ihn als Auftakt und wünschen uns eine Fortsetzung des Austauschs und der Zusammenarbeit.

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